Die Grenzen des Humors, was das mit der «Cancel Culture» zu tun hat und was Blasphemie heute eigentlich genau meint. Ein Interview mit Prof. Jürgen Mohn.
INFOREL: Herr Mohn, was ist Blasphemie und was hat sie heute noch mit Religion(en) zu tun?
Jürgen Mohn: Blasphemie ist in erster Linie ein kommunikativer Akt: Ein heiliges Objekt, Symbol oder eine heilige Person werden verspottet, was dazu führt, dass die Gemeinschaft hinter diesem Sakralobjekt sich angegriffen fühlt und dies anklagt. Es handelt sich hier also um ein dreigliedriges Konstrukt, bei dem SpötterIn, heiliges Symbol und Gemeinschaft in Kontakt und Konflikt geraten.
Aus dieser Perspektive kann man Blasphemie als Indiz dafür sehen, wo religiöse Gefühle bestehen und welche Symbole und Werte für diese religiöse Gemeinschaft besonders sakral und wichtig sind. Gesellschaftsrelevant wurde dies in jüngerer Zeit vor allem, wenn die Reaktion auf einen [empfundenen] blasphemischen Akt mit Gewalt beantwortet wurde, wie z.B. bei den Karikaturen der französischen Satirezeitschrift Charlie Hebdo.
Wir sehen also auch die Grenzen des Humors... was für die einen lustig ist, ist für die anderen also verletzend?
Genau. Der Humor endet dort, wo die Blasphemie beginnt. Also in Bezug auf eine Gemeinschaft, die genau diesen Spott, diesen Witz nicht mehr als lustig empfindet, sondern als diskriminierend. Und damit ist es in gewisser Weise ein Ausdruck für die Unterscheidung von «Insider» und «Outsider». Das heisst, die Insider-Gemeinschaft sieht den von aussen kommenden Akt der Infragestellung von Werten, von Symbolen als beleidigend im blasphemischen Sinne an und schliesst damit diese Person, die das tut, aus. Deswegen wurde Blasphemie dann auch in der europäischen Geschichte strafbar [und] zu einem Rechtsakt, der eine entsprechende Bestrafung oder eine Ausgliederung, eine Exklusion dieser den Akt der Blasphemie ausübenden Person vorsieht. Also ein strafbarer Akt, weil er eben die Grundlagen der Gemeinschaft infrage stellt und die Person, die Blasphemie ausübt, [sich] damit ausserhalb der Gesellschaft und ihres Konsenses stellt. Das Konzept hilft heutzutage auch, den Kontext des abschätzig genutzten Begriffs «Cancel Culture» besser zu verstehen: Der Akt der Verspottung einer Minderheit wird von der Gemeinschaft als Angriff auf die Grundwerte der Diversität bzw. Schutz von Minderheiten gesehen und der Ausschluss der spottenden Person wird gefordert. Dieser Ausschluss, also die Bestrafung des Spötters oder der Spötterin, wird von der Person als «Canceln» wiederum als Angriff auf die Meinungsfreiheit angeklagt.
Das heisst, Blasphemie gibt es auch religionsunabhängig?
Ja, denn dieses Phänomen taucht in jeder Gesellschaft auf, unabhängig davon, ob das Objekt der Blasphemie etwas Göttliches darstellt. Ein Beispiel ist die Ehrverletzung eines Politikers: Wir hatten den Fall des Spottgedichts gegen Erdogan – da kann man sehen, dass Blasphemie auch im politischen Kontext eine Rolle spielen kann, wenn die zentrale Ankerperson einer Gemeinschaft verspottet wird, was sich auch im Gesetz niederschlagen kann. Man könnte folglich sagen, dass Diskriminierungsgesetze eigentlich die moderne Version von Blasphemiegesetzen sind. Wenn in modernen verfassungsrechtlichen Gesellschaften die Grundlagen infrage gestellt werden – z.B. Minderheiten diskriminiert werden – dann sind die Personen, die das tun, nicht nur strafrechtlich zu verfolgen, sondern sie positionieren sich mit ihrem Akt der Verspottung auch ausserhalb der demokratischen Rechtsgemeinschaft und greifen zentrale Werte dieser Gemeinschaft an.
Unsere Gesellschaft wird immer pluraler, und solche klar ausgehandelten Insider- und Outsider-Gruppen werden vom Wandel, der auch durch die zunehmend vernetzte Medienlandschaft und globale Migration vorangetrieben wird, immer wieder auf die Probe gestellt. Mohammed-Karikaturen, die in Dänemark veröffentlicht werden, erreichen heute sowohl eine muslimische Bevölkerungsgruppe in Dänemark, die dies als Spott wahrnehmen können, wie auch über das Internet ganze Länder, die dies als verspottenden, also blasphemischen Akt interpretieren können. Blasphemie ist also nicht mehr nur ein lokales, sondern inzwischen auch ein globales Phänomen.
Ist dies auch mit ein Grund, weshalb im Sammelband «Blasphemie» interdisziplinär gearbeitet wurde?
Unter anderem, ja. Es sind zwei Kongresse in diesen Sammelband eingeflossen, die Perspektiven aus verschiedenen Disziplinen gebracht haben. Wir haben prinzipiell versucht, den Kreis über die abrahamitischen Religionen hinaus zu erweitern und [die Beiträge zu Blasphemie] in einen breiteren religionsgeschichtlichen Kontext zu stellen.
Die universelle und globale Verbreitung dieses Phänomens zeigt auf, wie wichtig ein interdisziplinärer Ansatz ist. Denn Blasphemie hat im kulturellen, gesellschaftlichen Sinne wieder Konjunktur, auch wenn sie im rechtlichen Kontext bei uns stark abnimmt. Denn rechtlich ist Blasphemie heute kaum nachweisbar und eher Zeugin eines älteren Blasphemiekonzepts, wo dieses heute von Phänomenen wie Cancel Culture, die diesen Prozess innergesellschaftlich aushandeln, abgelöst wird. Aber auch die Inhalte haben sich verändert. Unser Umschlagbild mit dem fliegenden Spaghettimonster im Bild von Michelangelo («Touched by his noodly appendage», Niklas Jansson) ist ein gutes Beispiel: Wir fanden dieses Bild der Blasphemie – zumindest für unseren Kulturkontext – sehr verträglich. Der Hintergrund von diesem Bild besteht darin, dass Gottesvorstellungen ganz unterschiedlich sein können und die Gemeinschaft [sog. «Pastafari»] spezifisch die Lehre des Kreationismus an Schulen kritisiert, indem sie die Einzigartigkeit des christlichen Gottes durch das Spaghettimonster infrage stellen. Aus ihrer Sicht ist dies Satire, aus christlicher Sicht Blasphemie, aber mittlerweile ist dies aufgrund der Kunstfreiheit akzeptiert. Das war auch schon bei Michelangelo der Fall, wenn man sein Bild ins Mittelalter zurückversetzt, wo eine anthropomorphe, also menschengestaltige Darstellung Gottes als blasphemisch wahrgenommen wurde. Damit wurde in dem Bild eine Blasphemie mit einer Blasphemie ersetzt.
Jürgen Mohn
Geboren 1963; Ordinarius für Religionswissenschaft an der Theologischen Fakultät und der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Basel.
Der Sammelband «Blasphemie. Anspruch und Widerstreit in Religionskonflikten.» wurde 2020 bei Mohr Siebeck als erster Band der Reihe Religion: Debatten und Reflexionen (RDR) veröffentlicht und herausgegeben von Matthias D. Wüthrich, Matthias Gockel und Jürgen Mohn.
Das Buch ist «Open Access», also online frei zugänglich.
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